Wer wohnt da? Ein Kunstsammler? Eine Erbin?
Eine Psychologin und ein Innenarchitekt rätseln im NZZ Folio darüber, wer in diesen Räumen lebt.
Psychologin Ingrid Feigl
In dieser Wohnung hat vieles Platz, ein wahres Sammelsurium an Stilmöbeln und Kunst. Trotz den unzähligen Dingen, die hier stehen, liegen und hängen, mutet das Ganze recht ordentlich an, eine Art persönliche und gekonnte Choreographie zieht sich durch die Räume. Hat sich jemand diese Räume mit seinen Lieblingsstücken, Möbeln, Bildern, Fotos, Nippes & Co. eingerichtet?
Hier nächtigen zwei Menschen, jeder hat seinen Nachttisch, allerlei verschiedene Kunst steht ums Bett herum. Mit Popart über den Kopfkissen und alten Meistern als Zuschauern scheinen die beiden offenbar gut zu schlafen. Die gesamte Wohnung hat etwas Offenes, Einladendes und einen Touch Verspieltheit.
Die Bewohner haben keinerlei Berührungsängste, man fühlt sich als Besucher in dieser Wohngalerie willkommen und darf sich ungeniert umschauen. Ob sie auch beruflich in der Kunstwelt tätig und in der Galeristenszene daheim sind? Oder ist ihr Zuhause die Gegenwelt zur nüchternen Arbeitswelt, ein Rückzug ins Private? Wer weiss, ob sie überhaupt berufstätig sind oder einfach so ihr Leben geniessen.
Die antiken Möbelstücke, die goldene Pendule im Schlafzimmer und die Schallplatten neben dem Buffet in der Stube deuten auf gesetztere Semester hin, aber altertümlich mutet das Ganze trotzdem nicht an. In der Küche – das muss wohl die Küche sein, mit altem Porzellan und Schoggi-Osterhasen auf dem Tisch? – darf Kunst auch nicht fehlen: Kreativ hat man das imposante Geweih mit einer Leuchtgirlande in eine fröhliche Lampe verwandelt. Aus der Zeit gefallen ist man hier ganz und gar nicht, nicht nur wegen der markanten Wanduhr, auch iPhone und iPad liegen griffbereit auf dem Tisch. Im Salon scheint der grosse Tisch eher als Bühne für Kerzenständer, Vogelskulpturen und Silberkelch zu fungieren.
Ob in diesem Haushalt auch ganz normal gekocht und gegessen wird? Jedenfalls sieht man nirgendwo profane Alltagsgegenstände. Schöne, spezielle Dinge, Kunst, alte Bücher und ausgewählte Musik scheinen die Hauptnahrung zu sein.
Nicht nur das Ledersofa im Salon hat Patina, alles und jedes einzelne Ding hat seine Historie, so wie auch die Bewohner sehr spezielle Persönlichkeiten mit einer eigenen Geschichte sind.
Innenarchitekt Jörg Boner
Die Wände haben hier nicht nur die Funktion, Räume zu trennen. Sie sind auch dazu da, schwere Leinwände in dick aufgetragenem Öl und breiten Goldrahmen zu präsentieren. Die gemalten Portraits öffnen Blicke ins vorletzte Jahrhundert. Sie hängen gleich neben Fotografien der Moderne.
Im Schlafzimmer wacht die goldene Uhr, die sich zentral auf dem Schubladenkorpus in Wurzelmaserfurnier eines europäischen Nussbaumes in Szene setzt. Sie thront über dem einen Quadratmeter Aristokratie im Schlafzimmer. Und dies in Sichtdistanz aus dem Bett, als ob es darum ginge, sich bei aufziehender Nacht einer aristokratischen Vergangenheit zu versichern. Das Bett hingegen, in dunkel gehaltenem Stahlrohr, entspringt industriell hergestellter Romantik. Über dem Kopfteil ein Bild mit Reminiszenzen der Popkultur. Der visuelle Ausflug in die Historie wird über dem Bett gleich wieder eingefangen und pendelt sich dann zwischen 1970er und 1980er Jahren ein.
Auch in der Küche lassen sich Rundflüge durch die Zeit machen. Das Geweih eines Wildtieres, wohl aus fernen Landen, thront hier, fest verschraubt in die grobkörnig weiss verputzte Wand. Eine Lichterkette scheint sich in den Verästelungen dieses Prunkstückes verheddert zu haben. Das geschah vermutlich in den 1980er Jahren. In dieser Zeit wurden in Tausenden Wohnungen meterlange Leuchtketten um irgendwelche Dinge gewickelt. Über dem Küchentisch hängt dann aber doch noch die Deckenleuchte, ein Retro-Entwurf aus den 2000er Jahren, ebenfalls aus dem hohen Norden.
Auf dem Tisch Keramik in Delfter Blau, daneben ein Stuhl, ein Biedermeierstück in Kirschbaumholz. Wer nennt denn heute noch Möbel in Kirschbaumholz sein Eigen? In Frage kommen da nur zwei Gruppen: faszinierte Sammler oder privilegierte Erben. Hier sind wir wohl bei letzteren. Das Paar, das diese Räume belebt, wurde in den Achtzigern und Neunzigern sozialisiert und kultiviert. Sind sie im Bildungswesen tätig, Lehrer vielleicht?
Die Ramones sind immer noch da, seit 1974 punkrocken sie. Wer hätte gedacht, dass ihre Vinylscheibe jemals neben einem Sekretär in Nussbaum darauf wartet, bis sie wieder mal auf dem Plattenteller drehen darf? Die beiden Bewohner haben schon eine etwas längere Zeitreise hinter sich. Die Vergangenheit kommt an jeder Ecke vor. Die kleine Revolution des Punks steht vorne, vielleicht um sich zu versichern, dass da mal ein Ausbruch anstand. Daneben alles, was ein buntes Leben bis heute begleitet: ein Sammelsurium von Stilen und Farben in einer Buntheit, die wohl kaum jemals wirklich komponiert wurde. Hier ist alles gleichzeitig. Anything goes – erinnern Sie sich?
Jean Jacques von Erlach, 58, Head of Business Development
«Gesellschaftlich ist mein Nachname ein Privileg, beruflich aber ist die Erwartungshaltung sehr hoch. Eine Bürde. Ich werde auch immer klischeemässig eingeschätzt: Wo ist euer Schloss? Meine türkische Ex-Frau zählte deshalb die Türschlösser durch und antwortete jeweils: Welches der zwölf meinen Sie?
Wir liessen uns vor sechs Jahren scheiden. Unsere beiden Kinder fühlen sich hier sehr wohl und gehen bei mir täglich ein und aus. Ich liebe meine Wohnung gleich gegenüber der Botschaft der Europäischen Union in Bern. Der Botschafter ist ein Grieche, ein cooler Typ. Wir winken uns ab und zu, wenn er die Storen hochzieht. Meine Wohnung hat 85 Quadratmeter und eine kleine Terrasse.
Ich kenne nichts anderes als Demokratie und wünsche mir auch kein Schloss meiner Vorfahren zurück. Obwohl ein Schloss einzurichten sicherlich eine Freude wäre. Ich würde das spacig machen, wie in meiner Wohnung. Ich kombiniere Alt und Modern, bin aufgeschlossen, habe aber auch Werte, die mir wichtig sind. Ich lebe zwischen Erinnerungen, Familienstücken und Funden aus dem Brockenhaus. Wenn mir etwas gefällt, stelle ich es hin.
Die Gemälde an den Wänden zeigen direkte Vorfahren. Wir wissen gar nicht, wohin mit all den alten Schinken. Meine Vorfahren hatten Schlösser: den Erlacherhof etwa, in dem die Berner Stadtregierung sitzt, Schloss Thunstetten, Schloss Hindelbank. Nach der Französischen Revolution verstanden sie nicht ganz, dass sie für ihren Lebensunterhalt etwas leisten müssten. Um ihren aufwendigen Lebensstil finanzieren zu können, verkauften sie Schloss um Schloss.
Über dem Esstisch hängt das Bild von Albrecht Friedrich von Erlach. Im Schlafzimmer wacht Hieronymus. Der war Bigamist und Doppelagent im Dienste Frankreichs und Österreichs. Er verdiente damit gutes Geld und war wohl der erste Neureiche der Schweiz. Sein Erlacherhof hatte Gitter zum Innenhof, damit das gemeine Volk reinschauen konnte, wie gut es ihm geht. Als ein Verbot, vierspännig zu fahren, erlassen wurde, fuhr er mit sechs Pferden vor seinem Wagen. So einer war das.
Musikalisch bin ich ein Kind der 1980er Jahre. Punk, New Wave. In den 1990er Jahren kam ein letztes Aufbäumen mit Grunge, danach verstand ich die Musik nicht mehr. Ich studierte Staatswissenschaften an der Universität St. Gallen. Es war ein hartes Studium, ich hatte jedoch Flausen im Kopf und interessierte mich mehr für Damen als anderes, aber ich schloss ab. Kürzlich kam ich zum Traumjob wie die Jungfrau zum Kinde: in Zürich bei einer amerikanischen Firma, die Lösungen für Unternehmen in den Bereichen Mitarbeitende, Risiko und Kapital anbietet. Dort bin ich für die Marktentwicklung Schweiz verantwortlich.
Wir sind um die 40 von Erlachs weltweit. Für unser jährliches Familientreffen mieten wir aus Spass auch mal eines unserer ehemaligen Schlösser. Wir ziehen uns dann schon etwas formeller an. Aber sicher ohne Krawatte, die trägt man ja kaum mehr.
Ich wäre gerne Kunsthändler oder Diplomat geworden. Aber im Kunsthandel sollte ich nach meinem Studium für einen Hungerlohn Bilder aufhängen, und Diplomaten wurden in meinem Jahrgang gerade keine gesucht.
Meine Eltern waren starke Persönlichkeiten. Beide sind heute leider nicht mehr in Bestform. Meine Mutter war Künstlerin. Kunst ist auch meine Leidenschaft. Bereits als Kind hatte ich immer ein Büchlein dabei, um Künstler zu bitten, mir etwas hineinzuzeichnen. Ah, hier ist es: Niki de Saint Phalle, Meret Oppenheim oder Markus Raetz.
Meinen Kindern ist der Nachname nicht wichtig. Ihre Freunde schätzen sie als Yasemin und Yunus. Auf dem Tisch in der Küche haben alle Freunde der Kinder mit Filzstift unterschrieben. Den Elchkopf darüber schoss mein Grossvater in Schweden.
Ich sammle alte Heuer-Uhren. Meine Mutter ist eine geborene Heuer. Ich habe viele Unterschriften von Ferrari-Rennfahrern, die in den 1970er Jahren für Heuer fuhren. Als die Firma 1982 im Zuge der Quarzkrise in Konkurs ging, war das ein Schicksalsschlag, keiner aus der Familie durfte mehr über Uhren sprechen. In jeder – ja, jeder – Familie gibt es schwarze Löcher und Abgründe.»
Dieser Artikel stammt aus dem NZZ-Folio zum Thema «Ankommen» (erscheint am 3. Juli 2023). Sie können diese Ausgabe einzeln bestellen oder NZZ Folio abonnieren.
Author: Kimberly Butler
Last Updated: 1700247242
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Name: Kimberly Butler
Birthday: 1947-07-13
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Job: Orthodontist
Hobby: Table Tennis, Card Games, Lock Picking, Chocolate Making, Cross-Stitching, Video Editing, Basketball
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